Winner of the Pulitzer Prize

Arrived – at what price? Viet Thanh Nguyen talks about Vietnamese refugees

Katharina Borchardt reviews The Refugees by Viet Thanh Nguyen in this article for Neue Zürcher Zeitung.

In zwei grossen Wellen trafen zwischen 1975 und Mitte der 1980er Jahre vietnamesische Flüchtlinge in den USA ein. Auch Viet Thanh Nguyen zählte zu ihnen – und der 1971 in Buôn Ma Thuôt geborene Autor hat aus solchen Schicksalen sein Lebensthema gemacht.

Zaghafte Schritte in ein neues Leben: Vietnamesische Flüchtlinge betreten 1975 einen amerikanischen Flugzeugträger. (Bild: PD)

Eines Abends klopft er an die Tür: der Geist des toten Bruders. 25 Jahre ist es her, dass er bei der Flucht aus Vietnam ertrank. Deshalb ist er nass, als er eintritt. «Er war aufgedunsen und bleich, das Haar fedrig, die Haut dunkel», stellt seine erschrockene, inzwischen 38-jährige Schwester fest. Auf See hatte er sie vor dem Zugriff von Piraten retten wollen und war ihnen dabei selbst zum Opfer gefallen.

Mit dieser Geschichte setzt Viet Thanh Nguyens Erzählband «Die Geflüchteten» ein. Er umfasst acht eindrückliche, auf feine Weise brüchige Geschichten, die von vietnamesischen Flüchtlingen erzählen: von ihrer Ankunft in den USA, vom Leben dort, das sich mit den Jahren langsam einspielt, und auch von einer nach Jahrzehnten versuchten touristischen Rückkehr in die einstige Heimat. Eine kluge Dramaturgie, die durch den Besuch des brüderlichen Geistes am Anfang einen Grundton erhält, in dem sich Trauer und Tapferkeit die Waage halten.

Exemplarische Fluchtgeschichten

In vielen der vor allem in Kalifornien spielenden Geschichten spuken noch die Geister der unterwegs Verlorenen herum, wenn auch eher im Kopf des jeweiligen Erzählers denn in patschnasser Inkarnation. Passenderweise ist die Schwester, die um den Preis des Lebens ihres Bruders gerettet wurde, Ghostwriterin geworden. Im Keller des elterlichen Hauses schreibt sie die traumatischen Lebensgeschichten anderer Leute auf und verdient damit ihr Geld.

Den Zugang zu ihren eigenen Erinnerungen findet sie erst, nachdem ihr Bruder bei ihr gewesen ist. Auch die Mutter beginnt zu erzählen, und die Tochter schreibt mit. «Warum schreibst du das auf?», fragt die Mutter verständnislos. «Solche Geschichten passieren die ganze Zeit», findet sie und hat damit nicht nur recht, sondern weitet die vietnamesischen Fluchtgeschichten zugleich ins Exemplarische.

Die mitschreibende Tochter könnte Viet Thanh Nguyen selbst sein. Denn auch er hält die Geschichten der Überlebenden fest, zu denen er selbst gehört. 1975 kam er als Vierjähriger mit seiner Familie in die USA und wuchs im kalifornischen San José auf. Schon vor Jahren publizierte er Essays und zwei Sachbücher zu den Themen Flucht, Erinnerung und Identität. Parallel dazu verfasste er seine nun auf Deutsch erschienenen Erzählungen, die er «allen Geflüchteten, überall» widmet, und anschliessend seinen Debütroman «Der Sympathisant», der 2016 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde.

Abwarten, zuhören

War der «Sympathisant» ein bis zur Unkenntlichkeit an die amerikanische Gesellschaft und ihren grosssprecherischen Duktus assimilierter Doppelagent, so sind die Figuren in den Kurzgeschichten sehr viel scheuer. Da nimmt in der zweiten Geschichte ein schwules Paar den jungen Flüchtling Liem auf, der in vielen für ihn unübersichtlichen Gesprächssituationen zunächst probiert, «einfach abzuwarten und sich so lange auf einsilbige Antworten zu beschränken, bis der Verlauf der Unterhaltung die Lage klärte».

Liem kommt 1975 in die USA. Die folgende Geschichte schliesst 1983 an und erzählt von der vom Krieg gebeutelten, aber nicht ganz ungefährlichen Frau Hoa. Sie sammelt unter den Exilanten Geld für die Rückeroberung Vietnams und droht denen, die keinen Beitrag leisten wollen, mit übler Nachrede. Das ist eine ernstzunehmende Drohung, da der Ruf, Kommunist zu sein, ein gerade erst mit viel Mühe aufgebautes Ladengeschäft schnell wieder zerstören kann.

Leben in einem neuen Land

Alle folgenden Erzählungen sind in der erweiterten Gegenwart angesiedelt. Man kann diesen Band also fast als Chronologie lesen, in der zunächst die Geister wiederkehren, bevor sich die Abfolge von Flucht, Immigration und einem neuen Leben in einem neuen Land noch einmal aufreiht.

An dieses Leben können sich die Immigranten mit den Jahren und Jahrzehnten durchaus gewöhnen. Da ist zum Beispiel ein muskelbepackter Veteran, der gerne in Little Saigon bei den Paraden der Exilvietnamesen mitmarschiert. Oder ein Ozeanologe, der lange an der Uni gelehrt hat und nun langsam in die Demenz abrutscht. Oder ganz zum Schluss eine junge Vietnamese American, die ihren Vater, der in den siebziger Jahren in Vietnam zurückblieb, als Erwachsene einmal besucht. Ihr Besuch wird von zahlreichen, fast schon klassischen Lügen über das herrliche Leben in den USA begleitet.

Die berückendste Geschichte aber ist wohl «Die Transplantation». Darin erhält der Amerikaner Arthur eine neue Leber. Als er erfährt, dass der Spender ein vietnamesischer Einwanderer war, ist er zunächst schockiert, sucht dann aber nach dessen Angehörigen, um sich zu bedanken. Schnell taucht mit Louis Vu ein falscher Sohn auf, der Arthurs Dankbarkeit nutzt, um gefälschte Designerware in seiner Garage einzulagern. Als die Sohneslüge auffliegt, stehen sich Arthur und Louis jeder auf seine Weise fassungslos gegenüber.

Es ist eine sehr symbolhafte Geschichte in diesem brillanten, emotional subtilen Band, der von vielen groben Verpflanzungen erzählt, von noch immer unruhigen Geistern und von vietnamesisch-amerikanischen Missverständnissen.


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