Winner of the Pulitzer Prize

“The Refugees”: The new storytelling book by Viet Thanh Nguyen

Beate Meierfrankenfeld reviews The Refugees by Viet Thanh Nguyen for BR24.

“Die Geflüchteten”, von denen Viet Thanh Nguyen in seinem neuen Buch erzählt, das sind Menschen, die alles verloren haben, versehrte Erwachsene in den USA, auf der Suche nach einem neuen Leben und Kinder, die zwischen den Kulturen Fuß fassen müssen.

Manchmal werden die Überreste des Krieges zur Touristenattraktion – auch wenn die Wunden, die er geschlagen hat, noch längst nicht verheilt sind. Mr. Ly ist Fremdenführer in Saigon und führt Amerikaner durch ein Tunnelsystem, in dem vietnamesische Partisanen kämpften. Seine Tochter wundert sich über dieses Reiseprogramm: “Phuong fand es verwirrend, dass die Touristen hier einen ganzen Tag verbrachten und ihr Geld ausgaben anstatt am Strand, in einem schicken Restaurant oder in der Hängematte eines rustikalen Cafés am Fluss. Der Grund dafür, so ihr Vater, sei die Tatsache, dass Touristen nur über eines in diesem Land etwas wüssten, und das sei der Krieg.” (aus: Viet Thanh Nguyen: „Die Geflüchteten“)

Der Vietnamkrieg begann für ihn mit vier Jahren in einem Flüchtlingslager

In einem früheren Leben besaß Mr. Ly eine Schuhfabrik und ein Strandhaus, die Kommunisten brachten ihn in ein Umerziehungslager, seine Frau floh mit drei Kindern in die USA. Aus der Verbannung zurückgekehrt gründet der Vater eine neue Familie – und gibt seinen jüngeren Kindern die Namen der älteren, die er verloren hat. Es sind zerrissene Figuren wie dieser Mr. Ly, die Viet Thanh Nguyen in seinem Erzählband „Die Geflüchteten“ beschreibt. Die Erfahrung, entwurzelt zu werden, hat der Autor selbst als kleines Kind gemacht. Bei einer Veranstaltung an der Universität Yale zu seinem Werk sagte er: “Ich kam 1975 als Vierjähriger in die USA. Meine erste Erinnerung ist unsere Ankunft im Flüchtlingslager Fort Indiantown Gap, Pennsylvania – und dann, dass ich von meinen Eltern getrennt und in eine weiße Gastfamilie gebracht wurde, weil niemand eine ganze Familie aufnehmen wollte. Das war der Beginn meiner Erfahrung mit dem Vietnamkrieg. Ich wuchs im Bewusstsein auf, dass dieser Krieg mein Leben geformt hatte und wollte verstehen, was das eigentlich bedeutete.”

Schauplatz der meisten Erzählungen des Bandes ist Amerika. Da ist zum Beispiel Frau Hoa, die noch 1983 in Kalifornien Geld für einen Guerillakampf in Vietnam sammelt, oder Professor Khanh, der in seiner Demenz seine Frau mit der Geliebten aus friedlichen Zeiten verwechselt. Die Erwachsenen sind versehrt, die Kinder suchen ihren Platz zwischen den Kulturen: Sie lesen „Captain America“-Comics, gehen mit ihren arbeitssamen Eltern in die katholische Kirche oder helfen ihnen in ihrem Laden namens „New Saigon Market“. Später lernen sie, dass für Amerikaner alle Asiaten gleich aussehen: „klein, bezaubernd und leicht zu vergessen“.

Lakonisch im Ton – mit amerikanischem Gespür für Schräges

Der Verstrickung zwischen Fremdheit und Anverwandlung entkommt hier niemand: Ein junger Vietnamese begreift staunend, was es im San Francisco der 70er-Jahre heißt, wenn zwei Männer ein Paar „im romantischen Sinne“ sind. Die Tochter eines US-Piloten wird Lehrerin im fernen Land des Krieges, um ihre „vietnamesische Seele“ zu entdecken und „ein paar von den Sachen“ wiedergutzumachen, die ihr Vater getan hat. Bei allem Schmerz, der unter den Geschichten liegt, sind sie doch lakonisch im Ton und haben ein sehr amerikanisches Gespür für schräge Wendungen des Plots und für Pointen: “Wenn du ein Land bombardierst, hatte sein Stubenkamerad in U-Tapao gesagt, solltest du wenigstens sein Bier trinken.”

So hält die Form der Texte auch Distanz zu ihrem Inhalt, doch es gibt Momente, in denen diese Distanz brüchig wird. Etwa wenn eine Frau sich an ihre Flucht als Teenager erinnert, an die Vergewaltigung durch Piraten auf dem Flüchtlingsboot, und die Sprache zu einer grellen Metapher greift: Es war „nicht das Gewicht des Mannes auf meinem Körper […], was mich am meisten schmerzte. Es war das Licht, das in meine dunklen Augen schien, als ich nach oben schaute und sah, wie sich die glimmende Zigarette Gottes am Himmel auf mich zu bewegte, um schließlich auf meiner Haut ausgedrückt zu werden. Seitdem meide ich den Tag und die Sonne.“

Verweigert die Stimme der Ethnie

Die Erzählungen von Viet Thanh Nguyen packen leiser und intimer als das preisgekrönte Romandebüt „Der Sympathisant“ ein Thema an, das auch das Lebensthema des Autors ist. Als Repräsentant einer bestimmten ethnischen Gruppe will er allerdings nicht wahrgenommen werden. Solche Festschreibungen auf ein kollektives Schicksal, die bei „weißer Literatur“ schließlich auch nicht vorgenommen werden, sind für ihn ganz grundsätzlich eine Falle: “Man greift bei einem neuen Autor mit einem bestimmten Hintergrund, der nicht weiß ist, sehr gern auf diese Idee zurück, da ‚gebe jemand denen eine Stimme, die keine haben‘. Das ist als Kompliment gemeint und soll heißen: Dieser Autor offenbart uns – den Weißen – etwas, was wir nicht wussten. Mir war klar, dass das auch mir passieren würde – und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann.“

Die Leser allerdings können etwas gegen diese Verengung des Blicks auf ein Werk tun – indem sie die Erzählungen von Viet Thanh Nguyen schlicht als das nehmen, was sie sind: gute Literatur.

“Die Geflüchteten” von Viet Thanh Nguyen ist, aus dem Amerikanischen von Wolfgang Müller übersetzt, bei Blessing erschienen.

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